Alles was ich bin by Funder Anna

Alles was ich bin by Funder Anna

Autor:Funder, Anna [Funder, Anna]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-10-402003-7
Herausgeber: Fischer E-Books
veröffentlicht: 2014-01-31T05:00:00+00:00


Toller

Es ist acht Uhr morgens. Es klopft zwei Mal an meiner Tür, dann kommt sie, wie jetzt immer, sofort herein.

Claras Hand, mit der sie mir die New York Times hinhält, zittert. Angst spricht aus ihrer gepressten Stimme. »Pauls Schiff hat den Hafen von Havanna erreicht, aber Kuba will sie nicht anlegen lassen – die Regierung fordert große Geldsummen. Wo soll einer das herbekommen? Ich weiß nicht –«

Ich nehme ihr die Zeitung aus der Hand. Die Schlagzeile lautet: »Flüchtlingsschiff nähert sich«. Sie kann nicht abwarten, bis ich den Artikel gelesen habe.

»Sie sollten eigentlich als Touristen in Kuba bleiben und auf ein Visum für Amerika warten.« Ich höre, wie sie sich bemüht, ihre Stimme zu kontrollieren, das Ganze zu einer rationalen Angelegenheit von Einreisegenehmigungen zu machen, die gekauft und anerkannt werden müssen, sich zu überzeugen, dass die Welt vernünftig ist und ihre Ängste nicht real sein können. »Paul hat eine Einreisegenehmigung – meine Eltern haben dafür zusammen mit dem Passagierschein bezahlt – jetzt hat der kubanische Präsident alle für ungültig erklärt. Ich verstehe nicht –«

»Man wird ihnen Visa geben«, sage ich. »Oder irgendeine Genehmigung.«

Clara kneift sich in die Nase, schließt die Augen und schluckt schwer.

»Sie werden doch wohl kaum ein ganzes Schiff voller Menschen wegschicken«, sage ich, »oder?«

Sie lächelt ein wenig, als wolle sie sagen, ja, was für ein törichter schwarzer Gedanke. Dann umwölkt sich ihre Miene wieder. »Da sind Briefe an den Herausgeber«, sie zeigt auf die Zeitung, »die gegen eine Landeerlaubnis hier sprechen, falls Kuba sie abweist. Mit der Begründung, dass es nicht genug Arbeit für unsereins gibt –«

»Gibt es auch befürwortende Briefe?«

»Ich glaube ja …« Sie sitzt da und zupft an einem Faden an ihrem Ärmel. »Unsereins«, wiederholt sie.

»Das müssen Sie ignorieren«, sage ich. »Ich werde auch einen Brief schreiben. Machen wir’s doch gleich.«

Ich überfliege den Artikel. Da ist ein Foto der MS St. Louis im Hafen von Havanna. Das Schiff sieht merkwürdig festlich aus, an einer Leine flattern Fähnchen vom Bug bis zum Heck. Aber es ist von Polizeibooten umringt. Hinter ihnen sind kleine Boote, von denen Verwandte und Freunde, die schon gerettet sind, ihren Lieben zuwinken. In dem Artikel steht, dass das Joint Distribution Committee, eine jüdische Hilfsorganisation, sich dorthin begeben und versuchen wird, etwas für die Flüchtlinge mit der kubanischen Regierung auszuhandeln. Die Regierung der Vereinigten Staaten ist sehr still geworden. Die Kanadier haben die Flüchtlinge rundweg abgewiesen. Und in Europa nutzt Hitler die Situation hemmungslos aus, indem er sagt, wenn die ganze Welt sich weigert, die Juden aufzunehmen, wie kann man dann Deutschland Vorwürfe wegen ihres Schicksals machen?

Wir verfassen einen offenen Brief an den Präsidenten, im Namen der internationalen Brüderlichkeit und unserer eigenen Menschlichkeit. Ich schreibe: »Die Chance zu erhalten, jemanden zu retten, und sie nicht zu ergreifen, muss in jeder Religion eine Todsünde sein …«

Nachdem Clara den Brief getippt hat, ruft sie einen Hotelboy herbei, der ihn zur Zeitung bringt. Als sie wieder sitzt, holt sie tief Luft und glättet ihren Rock über den Knien. »Glauben Sie, dass Briefe etwas ausrichten können?«, fragt sie. In ihren Augen kämpfen Schmerz und Hoffnung miteinander.



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